Der Kuckuckswald. Horror und Fantasy – geht das zusammen? Einen Versuch ist es wert! Die Novizin eines Naturordens verschwindet, eine Amazonengruppe soll sie wieder aufspüren, tief in den Eingeweiden eines Waldes, der von etwas grauenhaftem befallen wurde. Bist Du mutig genug, Dich dem Amazonentrupp anzuschließen?

Die Erzählung wird im Rahmen der »BloodRage-Anthologie« erstveröffentlicht und hat einen Umfang von 50 Seiten.

Der Kuckuckswald – Leseprobe

Die Siedlung

»Mir gefällt der Geruch hier nicht«, sagte Llorna und ihre trüben Augen strichen über die Siedlung, als ob sie damit etwas sah, was dem Rest verborgen blieb.
Renia betrachtete die betagte Amazone nachdenklich. Llorna mochte alt und halb blind sein, aber ihre Ohren und ihr Geruchssinn waren so scharf wie die Spitze ihres Speers – und wie ihr Instinkt.
Es war unheimlich still. Der Wind, der außerhalb tobte, kam nicht bis zum Grund des Talkessels, und nur die Bäume hoch oben am Talrand schüttelten ihre Kronen, als ob sie jemanden warnen wollten. Die Luft stand hier in heißen, unbewegten Inseln, in denen sich jeder Geruch entfalten und heranwachsen konnte. Renia hätte die alte Amazone gerne gefragt, was genau ihr am Geruch nicht gefiel, aber bei ihr stand Baestia, und Renia hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als neben der Jungamazone zuzugeben, dass sie beunruhigt war.
Baestia hing mit großen Augen an Llornas Lippen, das hübsche Gesichtchen von goldrotem Haar umrahmt, ihre kleinen Brüste von einem züchtigen Lederwams verhüllt, die Schultern von einem Überwurf verdeckt. Ganz das schüchterne kleine Mädchen, das vom Rat losgeschickt wurde, um mit ihrem süßen kleinen Lächeln die Herzen von irgendwelchen Prinzen zu vergiften, während Renia und Agava sich mit dem Blut von Schlägern und Soldaten besudeln mussten.
Renia spuckte aus und ging zu ihrer Zwillingsschwester. Agava stand bei der Ordensmutter, auf deren Hilferuf hin ihr kleines Amazonengrüppchen hierher aufgebrochen war. Dieser Hilferuf hatte zweifellos einen seltsamen Geruch. Es ging um eine Novizin, die sich im Wald verirrt hatte. Dafür hätte es eigentlich genügt, eine Jungamazone wie Baestia herzuschicken, und selbst das war schon so, als würde man die Königsgarde beauftragen, um eine Katze vom Baum zu holen.
Der Rat hatte aber nicht nur Baestia losgeschickt, sondern auch noch zwei erfahrene Kampfamazonen, und darüber hinaus eine große Schwester. Renia betrachtete die alte Amazone – der Rat muss hier etwas durch und durch Seltsames wittern, wenn er Llorna mitschickt, dachte sie.
Renias Zwillingsschwester stand bei der Ordensmutter, die ihren Gram um die verlorene Novizin gestenreich zum Ausdruck brachte. Agava schien hier nichts Ungewöhnliches zu bemerken, aber das war nichts Neues. Sie summte schier vor Tatendrang, wollte aufbrechen, etwas erleben, und gab sich nicht mit so etwas Banalem wie seltsamen Stimmungen ab. Die Säckchen mit Schwarzpulver und Bleikugeln waren straff an ihren engen Wildlederrock geknotet, die Steinschlosspistole fest an ihrem Rücken verzurrt – so wie alles an ihr fest verzurrt war. Ihr Dekolleté präsentierte ihre Brüste wie ein Obstkorb die reifen Früchte. Erste Amazonenregel: Sorge dafür, dass das Blut deiner Angreifer zwischen ihre Beine sackt, und du hast den ersten Schlag schon gewonnen.
Renia spürte einen jähen Anflug schwesterlicher Zärtlichkeit. Agava war zwei Herzschläge nach Renia zur Welt gekommen, und seitdem schien sie sich vorzunehmen, nirgends mehr an zweiter Stelle zu sein. Renia selbst hatte sich das Haar zu engen, dunkelblonden Zöpfen geflochten, die ihren Kopf bedeckten, was ihr den ehrfurchtsvollen Namen Medusa eingebracht hatte – und schon in der Nacht darauf, hatte Agava sich den Kopf so kurz geschoren, dass man sehen konnte, wie ihre Kopfhaut hindurchschimmerte. Einen verwegenen Kampfnamen hatte ihr das allerdings nicht eingebracht. Ausgerechnet ein Schänkensänger hatte ein Lied darüber angestimmt, wie sehr es die zarte Schönheit ihres Gesichtes betonte. Der Zahn, den Agava ihm ausgeschlagen hatte, kullerte wahrscheinlich noch heute irgendwo auf dem Boden dieser Schänke herum.
Renia spürte ein Lächeln in sich aufsteigen, aber es erstarb, ehe es ihre Lippen erreichen konnte. Irgendetwas sagte ihr, dass ihrer Schwester bei dieser Sache hier etwas Schlimmeres blühen könnte, als ein paar frischer Narben im Gesicht, wenn sie sich von ihrem heißen Blut voranpeitschen ließ.
Nein. Nicht irgendetwas sagte ihr das.
Sondern Llorna.
Ich mag den Geruch hier nicht. Der Kopf der halb blinden großen Schwester zuckte herum und ihre Nüstern blähten sich, die Schultern von Sorge herabgedrückt.
Dabei sah die Siedlung fast wie ein normales Dorf aus. Malerisch, am Grunde eines kleinen Tales, von bewaldeten Hügeln eingefasst. Schlichte kleine Lehmhütten, hübsche Gärten, und ein Bächlein, das vom Wald herabströmte und mit silbernem Gluckern durch die Ortschaft tanzte. Der Bach teilte die Siedlung in zwei Hälften und überall wölbten sich kunstvoll beschnitzte Holzbrücken über das Wasser.
Aber zwischen all dem stand diese »Gebetsstätte«, wie die Ordensmutter sie genannt hatte.
Wie eine blasse, riesige Pilzkappe wuchs sie aus dem Boden, eine mannshohe Kuppel, mit gewachstem Tuch bespannt, so ähnlich wie die Pestzelte in der Stadt. Von diesem Gebäude ging etwas aus, das Renia zutiefst zuwider war.
»Kuckucksmänner?«, fragte Agava gerade, und ihre ungläubige Stimme peitschte durch den stillen Ort. »Das ist ein Schauermärchen, das man Mädchen erzählt, damit sie das Haus nicht verlassen!«
Renia wurde hellhörig. Die Ordensmutter glaubte, Kuckucksmänner hätten etwas mit dem Verschwinden der Novizin zu tun? Auch Baestia kam näher, den Kopf schräg gelegt, die Falten auf ihrer Stirn waren so tief, dass sie fast aussahen wie eine Kampfbemalung. Nun, offenbar war selbst die Jungamazone nicht naiv genug, um an Kuckucksmänner zu glauben. … Und dann holen sie dich und verschleppen dich in ihren Bau im Wald, und du weißt, was sie dann mit dir anstellen, nicht wahr?
Agava lachte und schlug sich auf die Schenkel. Dann schien ihr allmählich zu dämmern, dass das kein Scherz gewesen war.
Kuckucksmänner … Renia lachte nicht. Diese Naturorden übergossen einen mit abergläubischem Gerede, das war nichts Neues. Hier jedoch beschlich sie einmal mehr das Gefühl, dass diese Ordensmutter ein Spiel mit ihnen trieb. Schwester Purita. Allein dieser Name machte Renia misstrauisch. Purita. Die Reine.
Schwester Purita beobachtete sie genau. Renia bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, doch die Ordensschwester lächelte bitter, als ob sie ihre Gedanken schmecken könnte wie eine verfaulte Zwiebel in der Suppe. »Seht euch den Wald an«, verlangte sie. »Seht genau hin. Und hört genau hin.«
Renia tat ihr den Gefallen. Rund um die Siedlung wuchs Weideland, aber in westlicher Richtung rollte der Wald von den Berghängen bis fast zu den Pforten der Siedlung herab, wie eine dunkelgrüne Zunge. Als sie alle in dieses finstere Grün starrten, wurde abermals deutlich, wie still es war. Renia weigerte sich, das Offensichtliche auszusprechen.
Die Jungamazone sah das offenbar anders. »Keine Vögel«, entfuhr es ihr. Der vorlaute kleine Dummkopf hatte den Köder gefressen, den die Nonne ihnen hingeworfen hatte. Der Unglaube in ihrem Gesicht verwandelte sich in Sorge. Schwester Purita war ganz entzückt und umfasste Baestias Arm mit festem Griff. »Ganz recht, mein liebes Kind! Keine Vögel. Und auch sonst nichts! Es ist kein Wild mehr auf dem Weideland zu sehen, nicht einmal ein Hase! Als hätte sich alles in die oberen Wälder zurückgezogen, und …«
Die Nonne verstummte in plötzlicher Wachsamkeit, als sich Renias Schwester von ihr abwandte und sich der Gebetsstätte näherte. Agava ging an dem Gebilde entlang und ließ ihre Hand über das Wachstuch streifen; die Ordensschwester verfolgte jede Bewegung mit versteinertem Blick. »Auch da drin ist es still«, sagte Agava. Das Wachs schmolz trotz der Hitze nicht, aber es verströmte einen strengen Geruch.
»Die Schwestern halten Andacht«, sagte Purita, die Stimme ruhig, und die Augen so versteinert wie zuvor.
Agava legte ein Ohr an das Wachstuch. Sie behielt die Ordensschwester genau im Auge. »Ich frage mich, was man mir wohl antworten würde, wenn ich da drin nach Kuckucksmännern fragte.« Renia sah sie besorgt an, aber Agava wich ihren Blicken aus. Treib’s nicht zu weit, Schwester. So sehr das hier alles auch stinkt, wir sind Gesandte des Rates und können es uns nicht erlauben, auf den religiösen Gefühlen unserer Auftraggeber herumzutrampeln.
»Sie sind in der Andacht«, wiederholte die Ordensschwester und zum ersten Mal schimmerte Stahl in ihrer ruhigen Stimme auf. »Sie sind mit dem Geist der Natur verbunden, mit dem Geist des Waldes, um seine Krankheit zu spüren, seine Heilung zu finden und unsere Schwester, die irgendwo in seinen Tiefen verloren gegangen ist!«
Damit war klar, dass sie hier keine befriedigenden Antworten bekommen würden. Keine ehrlichen Antworten. »Dann sollten wir vielleicht langsam aufbrechen«, sagte Renia. Sie versuchte, ihrer Schwester mit Blicken eine Botschaft zu schicken. Lass uns dieses Spiel mitspielen, bis wir besser verstehen, was hier los ist. Agava wirkte irritiert über diesen Rollentausch – immerhin war es sonst sie, die zum Aufbruch drängte –, aber sie sagte nichts.
Die Ordensmutter beobachtete sie schweigend. Als niemand mehr Anstalten machte, sich den Gebetsstätten zu nähern, nickte sie, drehte sich um, und ging in Richtung des Siedlungsausgangs.
Sie folgten ihr. Baestia schloss sich ihnen an. Llorna kam zwischen einer der verlassenen Lehmhütten hervor. Die alte Amazone verströmte Sorge wie eine dicke, übelriechende Wolke.
Die Gebetsstätte zog an ihnen vorüber und dahinter kam ein freundlich bestrichenes Haus zum Vorschein. Es war mit Blumenmustern bemalt, ein Novizinnenheim.
Doch keines der Mädchen wirbelte herum, um ihr Heim für die Frühjahrsweihe zu schmücken. Überhaupt schien das Haus gar keine Mädchen zu beherbergen. Einen Augenblick lang glaubte Renia, dass sie den Umriss eines Mädchengesichtes gesehen hätte, verängstigt und hilfesuchend. Aber als sie sich über die Augen wischte, waren die Fenster des Heims schwarz und leer.

Der Wald
Der Wald ragte düster vor ihnen auf, ebenso still wie die Siedlung. Ein überwältigender Gestank quoll daraus hervor, so dicht und klebrig, dass er sich wie ein Ölfilm auf ihre Haut legte. Schwester Purita stand am Waldeingang, gebeugt, und drückte sich ein Taschentuch unter die Nase. Baestia zückte ihren Knochendolch und Llorna hob den Speer. Agava wandte sich an die alte Frau. »Wie schätzt du die Lage ein, große Schwester?«
»Der Gestank«, keuchte Llorna, »er ist zu laut. Er macht mich für alles andere blind!«
Agava nickte nur und spannte den Hahn ihrer Steinschlosspistole. Renia zog ihr Schwert und näherte sich damit dem zugewucherten Waldeseingang. Sie musste einen Weg hineinhacken. Das Gestrüpp brach unter ihrem Schwert auf, und Gestank schoss daraus hervor wie eine Faust. Renia musste sich abwenden, um Atem zu schöpfen.
Dann stieg sie hindurch.
Der Wald übergoss sie mit düsterem Grün. Renias Augen tränten von dem Gestank und sie konnte in dem schwachen Zwielicht nur Umrisse ausmachen, aber die Ursache für den üblen Geruch erkannte sie trotzdem.
Leichen.
An den Bäumen aufgeknüpft, dicht an dicht, wie ein scheußliches Windspiel.
»Wie viele mögen das sein?«, fragte Baestia mit erstaunlich fester Stimme. Sie war mit den anderen durch die Lücke nachgekommen, die Renia geschlagen hatte. Ordensschwester Purita gab die Antwort. »Dreiundzwanzig«, ihre Stimme zitterte. »Das sind all die Männer, die ausgezogen waren, um unsere Schwester zu finden.«
Wir sind also nicht die Ersten.
Renia ging voran, das Schwert gezückt. »Und jetzt schickt ihr uns in das gleiche Schicksal?«, fragte sie, ohne sich zu der Ordensschwester umzudrehen.
»Seht euch die Toten an«, antwortete diese. »Dann werdet ihr verstehen, dass ihr das gleiche Schicksal nicht erleiden könnt.«
Der Boden unter den aufgeknüpften Leichen war durchweicht von Blut und Überresten, ein einziger, verfaulter Matsch. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das schwache Licht. »Keine einzige Frau«, raunte Renia. Sie stieß einen der Toten mit der Schwertspitze an und drehte ihn um; das Seil, an dem er baumelte, knarrte leise dabei. Der Körper war aufgequollen wie ein abscheulicher Luftballon, aber die Haut war beinahe unversehrt, keine Kratzer an Gesicht, Brust oder Armen. Ganz anders sah es zwischen den Beinen des Unglücklichen aus. Die Männlichkeit abgerissen, der Hodensack zerfetzt; ein einziger verbliebener Hoden hing blau und blutig heraus.
Auch Agava sah sich zwischen den Leichen um. »Ein Wald der abgerissenen Schwänze«, sagte sie und versuchte offenbar, abgebrüht zu klingen, aber Renia konnte die Verunsicherung hören, die sie unter ihrem schroffen Ton versteckte.
»Genitalverstümmelung«, sagte Purita. »Damit wollen sie männliche Eindringlinge abschrecken.«
»Und deswegen glaubt ihr, Kuckucksmänner seien dafür verantwortlich?«, fragte Baestia. Sie blickte auf die aufgeknüpften Leichen, ohne sich ihnen zu nähern. Schwester Purita antwortete nicht. Zumindest konnte Renia jetzt verstehen, warum der Orden bei einem Amazonenstamm um Hilfe gebeten hatte. Was auch immer hier los war, zumindest hatten sie nichts da unten, was man ihnen abschneiden konnte.
»Fällt nur mir auf, dass hier kein einziges Tier ist, um sich an diesem Festmahl den Bauch vollzuschlagen?« Renia steckte ihr Schwert weg. »Nichteinmal eine Fliege.«
Auch Llorna stapfte zwischen den Leichen umher, Baestia hing an ihrem Rockzipfel.
Plötzlich blieb die alte Amazone stehen. Vor ihr wuchs ein seltsames Gewächs aus den Überresten, die von den Leichen herabtropften.
Renia strich sich ihre Zöpfe aus der Stirn. Solche Pflanzen hatte sie noch nie gesehen. Überall unter den Leichen schienen diese Gewächse prächtig zu gedeihen. Sie hatten dicke, fleischige Blätter, und große graue Kelche, die ölig glänzten. Wie fette Kröten hockten sie in dem Matsch aus Verwesung, als ob sie ihre Wurzeln in den Tod hineinbohrten und sich daran sattfraßen.
Die Ordensschwester beobachtete die alte Amazone. »Wir wissen nicht, was das für Pflanzen sind«, sagte Purita. Sie flüsterte fast, als befürchte sie, der Wald könnte sie belauschen. »Die Novizinnen nennen es Leichenkraut. Es ist irgendein parasitäres Gewächs, das den Wald wie eine Krankheit überwuchert, und alle anderen Pflanzen abtötet.«
Renia beugte sich zu einer der Pflanzen hinab. Ihr Geruch war buchstäblich zu sehen, ein milchiges Flimmern, das von den Kelchen aufstieg. Renia schlug sich die Hand vor die Nase. »Dagegen duften diese Pfützen aus verfaulten Eingeweiden ja fast liebreizend«, keuchte sie.
Etwas knackte im Wald.
»Wir bekommen Besuch«, sagte Agava, ihre Stimme ruhig und wachsam.
Renia zog ihr Schwert, drehte sich um. »Was zum …«, entfuhr es ihr.
Ein Gesicht spähte aus dem Grün.
Es war kindlich, fast menschlich. Keine Nase. Ein kleiner Mundschlitz, graue Haut, und erst wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass da keine Haare auf dem Kopf sprossen, sondern dunkle Daunen. Die Geräusche, die aus diesem Mundschlitz drangen, klangen schüchtern, beinahe verängstigt, und die großen Kugelaugen glänzten erschrocken.
»Ein Späher«, raunte Baestia.
»Was du nicht sagst!«, zischte Renia, ein Späher.
Aber vor allem: Ein Kuckucksmann! Sie traute ihren Augen nicht. Kuckucksmänner waren Ammenmärchen! Sie verschleppen dich in den Wald und vergehen sich an dir …
Und doch starrte sie jetzt einer an, mit großen, glänzenden Augen, aus denen unschuldige Neugierde sprach.
Baestia kam näher, sie hatte ihren Knochendolch gezückt. »Fällt nur mir auf, dass diese Kreatur auf unsere Mutterinstinkte zielt?«, fragte sie. Niemand antwortete. Alle Augen lagen auf dem seltsamen Geschöpf. »Große Kulleraugen«, beharrte Baestia, »großer Kopf, schüchterne kleine Kinderlaute … fehlt nur noch, dass sie Mama krähen.«
Renia wollte etwas Giftiges erwidern, aber es blieb ihr im Hals stecken, als das Geschöpf abermals diese verängstigten Zwitscherlaute anstimmte.
»Verflucht«, raunte Agava, »das ist, als wollte man einem Fünfjährigen die Kehle durchschneiden.«
»Einem Fünfjährigen«, gab Renia zu bedenken, »der Männern die Schwänze abreißt, und sie zum verbluten auf Bäume knüpft.« Diese Erkenntnis änderte jedoch nichts daran, dass sich ihr Schwertarm wie versteinert anfühlte.
Llorna hob plötzlich ihren Speer. »Rührt euch nicht!«, verlangte sie, aber sie hatte es offenbar nicht auf den Kuckucksmann abgesehen.
Sie stieß den Speer in Baestias Umhang.
Wenn Baestia sich erschrak, zeigte sie es nicht. Mit gespannter Wachsamkeit beobachtete sie, wie Llorna ihren Speer wieder aus dem Umhang zog. Etwas war daran aufgespießt. Eine Art riesiges Insekt. Es zappelte und wand sich. »Das war in meinem Umhang?«, fragte die Jungamazone, und jetzt wirkte sie doch erschrocken. Sofort suchte sie den Rest ihrer Kleidung ab, offenbar um herauszufinden, ob noch mehr von diesen Dingern darin herumkrochen. »Was zum Teufel ist das?«
»Was es auch ist«, antwortete die alte Amazone, »Es fliegt so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.«
Das Ding war beinahe so lang wie eine ganze Hand, gelb und schwarz wie eine riesige Wespe. Die Flügel jedoch sahen merkwürdig aus. Seltsam groß, weit und verzweigt, wie ein Netz aus Daunenfasern. Renia trat an die Ordensmutter heran. »Wusstet ihr von diesen Biestern?«, fragte sie, doch die Nonne konnte das Geschöpf nur anstarren, mit Augen, die so groß und geweitet waren wie die des Kuckucksmannes. Auch dieser rührte sich nicht. Er beobachtete sie und strahlte fast so etwas wie … belustigte Neugierde aus. Die Steinschlosspistole, die Agava auf ihn richtete, schien ihn nicht zu kümmern.
Renia strich mit der Klinge über den Bauch des Insekts. Es wand sich und begann mit den Flügeln zu schlagen, ohne dabei ein Geräusch zu machen. Nicht einmal ein Windzug verriet seine Anwesenheit. Kein Wunder, dass Llorna kaum etwas gehört und Baestia nichts gespürt hatte.
»Die verfluchten Biester haben sich auf lautlosen Angriff spezialisiert«, knurrte sie. Ganz und gar nicht zart und filigran sah der Stachel am Hinterleib der Kreatur aus. Renia klopfte nervös ihre eigene Kleidung ab, falls sich eines dieser Biester bereits im Schleichflug an sie herangepirscht haben sollte. Es war schwer vorstellbar, dass dieser Naturorden etwas von dem Leichenkraut wusste, von diesen Insekten aber nichts. »Es wird Zeit zu plaudern, Ordensschwester«, knurrte sie. Die Nonne jedoch reagierte nicht. Sie starrte das Insekt an wie hypnotisiert.
Der Knall von Agavas Steinschlosspistole peitschte durch den Wald. Das Insekt explodierte und verteilte sich als gelb glänzender Matsch auf Brust und Gesicht derer, die um den Speer herumstanden. »Genug geplaudert«, sagte Agava. Der Lauf ihrer Pistole rauchte, und sie lud mit geübten Bewegungen nach. »Je länger wir hier herumstehen, desto eher kann uns eines dieser Biester einen Stachel in den Leib jagen.«
Insektenüberreste klebten auf Renias Brust und Llornas grauer Pferdeschwanz war von gelbem Schleim bedeckt. Baestia zupfte sich ein Stück abgeplatzten Insektenpanzers aus dem Mundwinkel und verzog keine Miene dabei. Renia schürzte die Lippen, wider Willen beeindruckt.
Purita indes rührte sich noch immer nicht. Sie starrte auf die Insektenüberreste, die sie bedeckten, ein abgerissenes Bein schwamm in Insekteneingeweiden, die ihr träge von den Armen tropften.
Da zischte der Kuckucksmann auf.
Jetzt klang er nicht mehr schüchtern und kindlich. Seine Hände zuckten hervor, drei Finger an jeder, fast menschlich, aber mit furchterregenden Krallen, die er jetzt in den Baumstamm rammte, und damit flink, wie eine Katze emporkletterte.
Agava feuerte ihm einen Schuss hinterher. Die Kugel riss ihm einen Arm aus der Schulter. Die Kreatur wurde nicht einmal langsamer.
Der Kuckucksmann keckerte nur und verschwand in den Baumkronen, ohne dem abgetrennten Körperteil auch nur einen Blick zu widmen. Der Arm stürzte aus den Wipfeln wie ein herabfallender Ast, blieb am Boden liegen und schloss sich in einem letzten Zucken zu einer Faust; die Krallen schnitten dabei tiefe Furchen in den Waldboden.
Agava betrachtete das. Sah eine Weile in die Ferne. Nahm einen tiefen Atemzug. »Wenn Eure Novizin in diesem Wald verloren gegangen ist«, sagte sie schließlich ernst, »dann lebt sie nicht mehr.«
Das endlich erweckte die Ordensmutter aus ihrer Starre. »Ihr wollt aufgeben?«, fragte sie mit ungläubigem Gesichtsausdruck.
»Seht euch um!«, verlangte Agava, »Männerleichen, Vogelkreaturen, Leichenkraut, lautlose Riesenwespen … Dieses ganze Waldstück ist von etwas verdorben, das wir nicht verstehen. Wir müssen diesen Wald ausräuchern. Aber alleine werden wir das nicht schaffen.«
Purita holte Luft, um etwas zu erwidern, aber da erhob Llorna das Wort. »Wenn wir hierbleiben«, sagte sie leise und eindringlich, »dann werden auch wir zu Verschollenen.«
Baestia seufzte und es klang verdächtig nach Erleichterung. Renia konnte nicht verhindern, dass ihr ein abfälliger Laut über die Lippen kam. Ja, zurück an königliche Höfe mit dir, wo du wieder deine behaglichen kleinen Verführerdienste verrichten kannst. Zu Renias Überraschung baute sich die Jungamazone vor ihr auf, die Augen voll trotzigem Feuer. »Willst du mir etwas sagen, Kampfamazone?«
»Nichts, was du von mir nicht schon gehört hättest.«
Baestias Augen funkelten. »Ich bin vielleicht nicht so kampferfahren wie ihr«, zischte sie, »aber ich wäre das hier bis zum Ende mit euch gegangen!« Renia erwiderte ihren Blick kühl.
»Jetzt da du weißt, dass wir aufbrechen, ist es leicht, mutige Reden zu schwingen.« Baestias Wange zuckte vor trotzigem Zorn. Renia widerstand der Versuchung, sie zu tätscheln. Sie wollte sich von der Jungamazone abwenden, aber da erklang abermals ein Geräusch im Wald, das sie alle sofort nach ihren Waffen greifen ließ.
Eine Frauenstimme. Schrill, offenbar in höchster Bedrängnis. Das Feuer in Baestias Augen loderte auf, als sie das hörte. Ehe Renia noch irgendetwas zu der Jungamazone sagen konnte, war sie schon davongestürzt.

 

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